Neuzeit (bis 1918)

Die Herrschaft der Cirksena (1464?1744), Konfessionskriege

Unter der Herrschaft des 1662 in den erblichen Fürstenstand erhobenen Hauses Cirksena entwickelte sich Ostfriesland politisch, kulturell und wirtschaftlich vorteilhaft. Die größte Ausdehnung erreichte die Grafschaft unter Edzard dem Großen, unter dessen Herrschaft auch die Ausbreitung der Reformation in Ostfriesland begann und das Ostfriesische Landrecht konzipiert wurde. Die Grafen konnten in Ostfriesland allerdings keine starke Adelsherrschaft wie in den anderen Staaten des Reiches durchsetzen, da die friesischen Stände ihre Freiheitsrechte weitgehend zu wahren wussten. Leer und Aurich entwickelten sich zu den bedeutendsten Viehhandelsplätzen der Region. 1508 wurde in Leer erstmals der bis heute bestehende Gallimarkt abgehalten. Schon Ocko I. tom Brok soll im 14. Jahrhundert Juden nach Ostfriesland geholt haben, wahrscheinlich reichen die Kontakte aber erheblich weiter zurück, zumal Friesen wie Juden sehr stark im Fernhandel tätig waren. Die älteste Synagogengemeinde entstand um 1550 in Emden; weitere Gemeinden entstanden in allen größeren Orten. Der politische und wirtschaftliche Aufschwung wurde durch einen kulturellen begleitet, untermauert und bestärkt durch die Gründung der Universität Groningen unter ihrem Rektor Ubbo Emmius (1547?1625), dem bedeutendsten ostfriesischen Humanisten und Historiker.

Ein herber Rückschlag für den Emder Handel ereignete sich in Gestalt der Cosmas- und Damian-Flut 1509. Verlief die Ems bis zur Flut noch in einem nordwärts geschwungenen Bogen an der Stadt vorbei, so suchte sie sich nach der Sturmflut einen geradlinigen Weg in den Dollart und weiter zur Nordsee: Der Emder Hafen drohte zu verlanden. Der Dollart erreichte nach der Flut seine größte Ausdehnung, erst 1605 wurde im Rheiderland mit dem Bunderneuland der erste Polder dem Meer abgerungen, weitere folgten erst 1682 (Charlottenpolder) sowie 1707/08 mit dem Norder- und Süder-Christian-Eberhards-Polder und dem Bunder Interessentenpolder ? also fast genau zwei Jahrhunderte nach der Flut.

Um 1520 hielt die Reformation Einzug. Anders als in den meisten Regionen war es jedoch nicht die Obrigkeit, die hier federführend war. Zwar unterstützte Graf Edzard I. die Verbreitung der neuen Lehre, war in seiner Position jedoch zu schwach, um ein bestimmtes Bekenntnis durchzusetzen. So existierten lutherischer Protestantismus und Calvinismus in Ostfriesland nebeneinander, ohne dass dabei eine Konfession die Oberhand gewinnen konnte. Vielmehr setzte sich eine Spaltung des Landes in einen lutherischen Osten und einen calvinistischen Westen durch. Katholische Kirchen hingegen gab es nach der Reformation in Ostfriesland nicht mehr, katholische Christen kaum noch.

Die Klöster wurden säkularisiert und zum Teil als profane Gebäude genutzt. Die meisten wurden jedoch abgebrochen und das so gewonnene Baumaterial zum Hausbau oder zur Anlage von Befestigungen für die Städte genutzt. Ihre archivierten Urkunden, Verträge, Bild- und Schriftquellen gingen größtenteils verloren.

1568 geriet Ostfriesland in die Auseinandersetzungen der niederländischen Freiheitskriege, als niederländische Truppen, die so genannten Geusen, unter ihrem Anführer Ludwig von Nassau-Dillenburg nach der Schlacht von Heiligerlee ins Rheiderland auswichen. Spanische Truppen unter Herzog Alba folgten ihnen. Am 21. Juli 1568 trafen die beiden Verbände in der Schlacht von Jemgum aufeinander, die mit einem Sieg der Spanier endete. Albas Heer zog anschließend drei Tage lang plündernd, brandschatzend und vergewaltigend durch das Rheiderland.

Vor allem die Stadt Emden profitierte in den Folgejahren vom Zuzug von Glaubensflüchtlingen aus den Niederlanden, die etwa Menno Simons aus Witmarsum führte ? nach ihm wurden die Mennoniten benannt ? , aber auch aus Frankreich und England. Die Stadt war zudem durch das Wirken reformierter Prediger auch eine Hochburg des Calvinismus, etwa durch Johannes a Lasco. Zeitweise sah es so aus, als ob die Stadt ein drittes reformatorisches Zentrum neben Wittenberg und Genf werden könnte.

Emden erlebte zwischen 1570 und dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ihre größte Blütezeit und wurde einer der wichtigsten europäischen Hafen- und Reedereistandorte. Dies war in erster Linie der großen Zahl niederländischer Glaubensflüchtlinge geschuldet, die sich hier niederließen. Mehrere Tausend Kaufleute, Reeder und Handwerker siedelten sich in der Stadt an, die Einwohnerzahl stieg um 1600 auf annähernd 15.000. Emden war damit eine der bedeutendsten Hafenstädte Nordeuropas. Die Stadt agierte immer selbstbewusster gegenüber dem Grafen. Die Spannungen gipfelten 1595 in der Emder Revolution, bei der Graf Edzard II. gezwungen wurde, auf den Großteil seiner Rechte in Emden zu verzichten. Bereits 1561 hatten die Cirksena nach Auseinandersetzungen mit Repräsentanten der Hafenstadt ihren Hof nach Aurich verlegt, das bis dahin lediglich als Sommerresidenz gedient hatte.

Der 1604 zum Stadtsyndikus berufene Rechtsgelehrte Johannes Althusius stärkte in den folgenden Jahrzehnten noch die Stellung der Stadt, insbesondere gegenüber den Grafen und den Nachbarstädten. Emden war zu jener Zeit zwar nicht de jure eine freie Reichsstadt. Mit den Niederlanden als Schutzmacht im Rücken und weitgehender Unabhängigkeit vom ostfriesischen Grafenhaus war Emden allerdings de facto eine freie Reichsstadt. Kappelhoff hat dafür den Begriff quasiautonome Stadtrepublik geprägt.

Während des Dreißigjährigen Krieges litt Ostfriesland große Not durch die Truppen des Grafen von Mansfeld. Die einzige Ausnahme bildete wiederum Emden, da der kurz zuvor fertig gestellte Emder Wall die Stadt schützte. Emder Kaufleute gründeten 1633 die erste Fehnsiedlung Ostfrieslands, (West-)Großefehn.

Der Krieg sicherte kapitalkräftigen Juden durch den ständig wachsenden Geldbedarf der Kriegsparteien zwar einerseits ein Bleiberecht in Ostfriesland, belastete sie andererseits aber auch in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Die Liste ihrer finanziellen Verpflichtungen war lang. 1629 zahlten die Emder Juden (als Vertreter der jüdischen Gemeinden Ostfrieslands) 180 Gulden Schutzgeld im Jahr, 200 Gulden Torfgeld sowie etwa 2000 Gulden an diversen Verbrauchssteuern, insgesamt also 2580 Gulden. Hinzu kamen noch Mietzins, Heiratsgelder, außerordentliche Abgaben an den Landesherrn: 4 Gulden Schutzgeld pro Haushalt plus 150 Reichstaler Antrittsgeld.

Im 16. und 17. Jahrhundert entstand die typische Form des ostfriesischen Bauernhauses, das Gulfhaus, zunächst in den Marschen, wo durch bessere Entwässerungssysteme auch der Ackerbau möglich wurde ? zuvor war dort nur Viehhaltung möglich. Da der Marschboden sehr fruchtbar ist, sind reiche Ernten möglich. In der Marsch finden sich daher deutlich mehr (größere) Gulfhöfe, dort auch Plaats genannt, als auf der Geest. Auch viele kleinere Landarbeiterhäuser sind nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie die großen Höfe.

Dem Dreißigjährigen Krieg folgte eine unvergleichliche Machtentfaltung der ostfriesischen Stände, die sich weitgehend unabhängig vom jeweiligen Landesherrn machten. Der Versuch, die landesherrliche Macht wiederherzustellen, schlug fehl. Aus der Vertretung der ostfriesischen Stände ging später die Ostfriesische Landschaft hervor, die noch deren Wappen führt, sich inzwischen aber von einer politischen Institution zu einer Einrichtung der Kulturpflege gewandelt hat.

Das Fürstentum Ostfriesland kam unter den Einfluss der Niederlande und lehnte sich politisch, kulturell und wirtschaftlich eng an diese an. Die Niederlande stationierten an zentralen Orten Truppen, darunter in Leerort bei Leer und in Emden. Während des Holländischen Krieges von 1672 bis 1679 durchzogen Truppen verschiedener Staaten Ostfriesland, das den Abzug durch Zahlungen erkaufen musste.

Kampf zwischen Fürstenhaus und Ständen, Brandenburg-Preußen

Die Fürstin von Ostfriesland nutzte diese Situation aus und handelte 1676 einen Schutzvertrag mit dem Fürstbischof von Münster aus, um ihren Herrschaftsanspruch gegenüber den Ständen durchsetzen zu können. Anfang September 1676 marschierten schließlich acht münsterische Kompanien Infanterie als Grenzschutz nach Ostfriesland ein. Die Stände benötigten nun ihrerseits eine Schutzmacht, um das innenpolitische Übergewicht der Fürstin wieder ausgleichen zu können, wofür sich Brandenburg anbot. Dieses interessierte sich für Ostfriesland, weil auf diese Art die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie von Königsberg an den strategisch viel besser gelegenen Hafen von Emden verlegt werden könnte, zumal dieser zu der Zeit als einer der besten Europas galt. Dabei nutzte Kurfürst Friedrich Wilhelm 1682 die erneut aufflammenden Konflikte zwischen dem Fürstenhaus und den ostfriesischen Ständen. Vor allem die Stadt Emden war an einer Schwächung des Fürstenhauses interessiert und einigte sich mit dem brandenburgischen Herrscher. Dieser ließ nun Truppen in Ostfriesland aufmarschieren, woraufhin am 22. April 1683 ein Handels- und Schifffahrtsvertrag mit den Ständen Emdens ausgehandelt wurde. Fortan wurde Emden der Stammsitz der Brandenburgisch-Afrikanischen Compagnie und Vorposten Brandenburg-Preußens. Um einen geeigneten Hafen für seine Überseekolonie Großfriedrichsburg zu besitzen, schloss der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm am 2. Mai 1683 einen Vertrag mit der Stadt Emden und machte sie zum Sitz der Churfürstlich-Afrikanisch-Brandenburgische Compagnie.

1726/27 kam es zum so genannten Appell-Krieg, der sich in einem erneuten Konflikt zwischen dem Fürsten Georg Albrecht und einem Teil der Stände äußerte, die sich in ?gehorsame? und ?renitente? aufspalteten. Der Fürst ging als Sieger aus diesem Konflikt hervor. Selbst die an der Spitze der ?renitenten? Stände stehende Stadt Emden unterwarf sich. Durch Verhandlungsfehler des Kanzlers Enno Rudolph Brenneysen, kam es jedoch nicht zu einer friedlichen Einigung der an dem Konflikt beteiligten Parteien. Obwohl Kanzler und Fürst eine strenge Bestrafung der Renitenten forderten, wurden diese 1732 vom Kaiser amnestiert. Als Fürst Georg Albrecht am 11. Juni 1734 starb, übernahm Carl Edzard im Alter von 18 Jahren die Amtsgeschäfte als letzter noch lebender Nachkomme von Georg Albrecht. Auch er konnte die Konflikte mit den Ständen nicht lösen.

Zu dieser Zeit wurden die Weichen für die Machtübernahme Preußens in Ostfriesland gestellt. Eine bedeutende Rolle nahm hierbei die Stadt Emden ein, die nach dem Appell-Krieg politisch isoliert und wirtschaftlich stark geschwächt war. Ziel der Emder Stadtspitze war es, die Stellung als ständische Hauptstadt und Handelsmetropole zurückzugewinnen. Ab 1740 setzte sich die Meinung durch, dass dieses Ziel mit preußischer Hilfe erreicht werden könnte. Dazu sollte ein Vertragswerk geschaffen werden, das die preußische Anwartschaft anerkannte. Die wirtschaftliche Position Emdens sollte durch Schutzmaßnahmen und Förderungen gestützt und die bestehenden Privilegien (etwa das Stapelrecht) bestätigt werden. Die Verhandlungen auf preußischer Seite führte der Direktorialrat im niederrheinisch-westfälischen Reichskreis, Sebastian Anton Homfeld, der am 8. November 1740 ein erstes Gutachten über die Verfahrensweise beim Eintritt des Erbfalls vorlegte.

Homfeld galt als einer der führenden Vertreter der renitenten Stände. Am 14. März 1744 kam es zum Abschluss von zwei Verträgen, die zusammenfassend als Emder Konvention bezeichnet werden. Zum einen war dies die Königliche Special-Declarations- und Versicherungsakte, zum anderen die Agitations- und Konventionsakte, in der vornehmlich wirtschaftliche Regelungen getroffen wurden. Des Weiteren stützte sich Preußen auf die von Kaiser Leopold I. 1694 ausgestellte Expektanz, die das Recht auf Belehnung des Fürstentums Ostfriesland für den Fall fehlender männlicher Erben sicherstellte. Trotz des Widerstands des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg setzte sich Preußen durch.

Preußen, Niederlande, Frankreich (1744?1814) 

Als am 25. Mai 1744 Carl Edzard, der letzte ostfriesische Fürst aus dem Hause Cirksena, starb, machte König Friedrich II. von Preußen sein Nachfolgerecht geltend, das in der Emder Konvention geregelt war. Er ließ Ostfriesland, von Emden ausgehend, ohne Widerstand besetzen, worauf am 23. Juni das Land der Krone huldigte. Die Landeshauptstadt Aurich blieb Sitz der Landesbehörden, erhielt eine Kriegs- und Domänenkammer und wurde Regierungshauptstadt der preußischen Provinz Ostfriesland. Das gesamte Inventar des Schlosses, darunter die ostfriesische Fürstenbibliothek und das Mobiliar, wurde in mehreren Auktionen unmittelbar nach Beginn der preußischen Herrschaft versteigert, so dass davon heute kaum noch etwas erhalten ist.

Preußen erkannte die selbstständige Stellung Ostfrieslands innerhalb des Staates an und setzte einen weitgehend autonom regierenden Kanzler ein. Der erste Kanzler war der oben genannte, äußerst einflussreiche Sebastian Anton Homfeld aus einer rheiderländischen Honoratiorenfamilie, dem Gerüchte die Vergiftung des letzten ostfriesischen Fürsten zuschreiben.

1751 und 1755 besuchte Friedrich II. Ostfriesland. Die preußische Herrschaft brachte für Ostfriesland einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung und die verstärkte Öffnung nach außen. So profitierte die Stadt Emden etwa von der Einrichtung eines Freihafens im Jahr 1751. Der Emder Hafen ist damit einer der ältesten Freihäfen Europas. 1754 wurde per königlichem Befehl die Einrichtung einer Feuerversicherung angeordnet - die noch in öffentlichem Besitz befindliche Ostfriesische Landschaftliche Brandkasse. Auch das Postwesen wurde ausgebaut.

Mit dem Urbarmachungsedikt für Ostfriesland von 1765 begann die Hochphase der Moorkolonisierung und die Gründung vieler neuer Fehnsiedlungen, vor allem im Bereich der heutigen (Samt-)Gemeinden Hesel, Uplengen, Jümme, Rhauderfehn, Ostrhauderfehn, Moormerland und Ihlow − also im Wesentlichen innerhalb des Städtedreiecks Emden−Aurich−Leer sowie im heutigen südöstlichen Gebiet des Landkreises Leer. Hinzu kamen unter anderem Berumerfehn als einzige wesentliche Fehngründung im Norderland sowie Wagnersfehn als einzige Fehngründung nahe Esens.

Auch Einpolderungen zur Landgewinnung wurden verstärkt vorangetrieben. An der Leybucht wurden der Leysander Polder (1769), der Hagenpolder (1770) und der Schulenburger Polder (1781) eingedeicht, an der Harlebucht der Friedrichsgroden (1765), Schweringsgroden (1804, komplett vollendet 1833), Friedrich-Augustengroden und Neu-Augustengroden (1806/10) sowie der Kielgroden (1810). Am Dollart schließlich kamen Landschaftspolder (1752) und Heinitzpolder (1773) hinzu.

Durch diese Binnenkolonisierung wurde es möglich, die wachsende Bevölkerung zu ernähren und zugleich weiterhin landwirtschaftliche Exporte zu tätigen. Lebten 1744 noch 83.000 Einwohner in Ostfriesland, waren es 1770 zirka 100.000 und 1805 dann 120.000.

Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 wurde Ostfriesland in das Königreich Holland und damit in den französischen Machtbereich eingegliedert. Diese Annexion wurde 1807 von Preußen im Frieden von Tilsit anerkannt. 1808 wurden noch unter Holländischer Herrschaft die ostfriesischen Landstände aufgelöst.

Am 9. Juli 1810 kam es als Departement Ems-Orientale (Osterems) unmittelbar zum französischen Kaiserreich. Das westliche Ostfriesland (Rheiderland) wurde aufgrund alter niederländischer Ansprüche aus Ostfriesland ausgegliedert und dem niederländischen Département Ems-Occidental mit der Hauptstadt Groningen zugeschlagen, dem Département Osterems wurden dafür die Herrschaften Jever und Kniphausen mit Varel zugeschlagen. Frankreich brachte moderne Rechtsvorstellungen nach Ostfriesland und unternahm die ersten Schritte zu einem umfassenden Umbau des Gesellschaftssystems. Auf Anordnung Napoleons mussten die Ostfriesen 1811 die bisher dort unbekannten Familiennamen annehmen und ihr bisheriges kompliziertes System der patronymischen Namensvererbung aufgeben - dies setzte sich aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig durch. Es wurden auch erstmals Bürgermeister in den Dörfern eingeführt. Die Dorfgesellschaften kannten bis dahin keine zentrale Verwaltungsstelle, da die Verantwortung auf die Olderlinge, Deichgrafen und andere lokale Honoratioren verteilt war. Außerdem wurde der Code civil eingeführt, der Gleichheit vor dem Gesetz, persönliche Freiheit und Schutz des Privateigentums garantierte. Zur Durchsetzung der Kontinentalsperre wurden zahlreiche französische Zollbeamte eingesetzt, deren Nachkommen teils noch immer in Ostfriesland leben. Einige Ostfriesen wurden in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit durch den England-Schmuggel wohlhabend, unter anderem mit Tee. Größeren Unmut erzeugten die Truppenaushebungen in Ostfriesland. 1811 kam es auf den Fehnen zu Tumulten, als hier die Männer zur Marine eingezogen werden sollten, die erst nach zwei Todesurteilen endeten. Dennoch empfanden die meisten (auch die hier lebenden Juden, denen unter holländischer und später unter französischer Besetzung die Bürgerrechte und die völlige Gleichberechtigung zugestanden wurde) die Fremdherrschaft als bedrückend und beteiligten sich an den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Nach dem Zusammenbruch seiner Herrschaft zogen in den Jahren 1813 bis 1815 erneut die Preußen ein und die alten Landesgrenzen wurden wieder hergestellt. Ostfriesische Soldaten nahmen an den Schlachten von Ligny und Belle-Alliance (Waterloo) teil.

Die hannoversche Zeit (1815?1866)

Im Wiener Kongress wurde Preußen zwar ein Teil des Großherzogtums Warschau, nämlich Posen, zugesprochen, und es erhielt Vorpommern, Westfalen und die Rheinprovinz, jedoch musste es Ostfriesland an das Königreich Hannover abtreten. Federführend war dabei Großbritannien, das die Festsetzung Preußens an der Nordseeküste verhindern wollte. Preußen musste sich im Frühjahr 1813 zur Bezahlung britischer Kriegslieferungen verpflichten und Ostfriesland an das Großbritannien in Personalunion verbundene Hannover abtreten.

?Der König von Preußen tritt an den König von Großbritannien und Hannover das Fürstentum Ostfriesland ab unter den Bedingungen, die im Artikel 5 über die Emsschifffahrt und den Handel im Emder Hafen gegenseitig festgelegt sind. Die Stände des Fürstentums werden ihre Rechte und Privilegien behalten.? ? Schlussakte des Wiener Kongresses: Artikel 27

Trotz der vertraglichen Zusicherung wurden die Privilegien der Stände von den Königen von Hannover nicht wieder eingeführt. An ihre Stelle trat am 17. Juni 1817 eine Provinzialregierung für Ostfriesland, die dem Staats- und Kabinettsministerium direkt unterstellt war. Am 10. Mai 1823 wurde schließlich die Landdrostei Aurich als Mittelbehörde des Königreichs[41] eingerichtet, welche die Aufgaben der Provinzialregierung übernahm. Im Gegensatz zu Preußen (das z. B. immer auch die Abwesenheit der Ostfriesen in seinem Heer akzeptiert hatte) war innerhalb des Königreichs Hannover keine Sonderrolle für Ostfriesland vorgesehen. Die folgende Zeit war neben diesen rechtlichen Veränderungen von wirtschaftlichem Stillstand, teilweise Rückschritt geprägt.

Im Jahre 1846 erhielt nach 13 Jahren der Beratung die Ostfriesische Landschaft, in der nun auch Vertreter des Harlingerlandes saßen, eine neue Verfassung. Sie sicherte ihr immerhin eine Mitwirkung bei Gesetzen zu, die nur Ostfriesland betrafen.

Auswandererzeitung Ostfriesische Nachrichten- Heimatblatt der Ostfriesen in Amerika Zu dieser Zeit lebten etwa 142.000 Einwohner in Ostfriesland. Bis zum Ende der hannoverschen Zeit erhöhte sich die Einwohnerzahl um etwa 37 Prozent auf 194.033.[41] Die schlechten Wirtschaftsbedingungen ? die trotz des Baus der Hannoverschen Westbahn 1854-1856, der zunächst Leer und Emden an das Eisenbahnnetz anschloss, lange andauerten − führten zu einer Auswanderungswelle von Ostfriesen in die USA, die etwa um 1848/50 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Ziele waren vor allem die Staaten Illinois und Iowa, in denen es noch heute Regionen gibt, in denen Plattdeutsch gesprochen wird. Die Auswanderer zogen bevorzugt mit Menschen zusammen, mit denen sie schon in ihren Heimatdörfern zusammengelebt hatten. Von 1882 bis 1971 erschien in den USA die Zeitung Ostfriesische Nachrichten ? Heimatblatt der Ostfriesen in Amerika.

Als das Land mit der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen 1866 wieder preußisch wurde, stieß dies in Ostfriesland auf Begeisterung. Tatsächlich erfolgte spätestens ab den 1880er Jahren ein wirtschaftlicher Aufschwung. Darüber hinaus setzte sich die kulturelle Verbindung mit Deutschland (?Duitsland?) endgültig durch, und die Verwendung der deutschen Sprache in der Schule wurde üblich (in manchen Gebieten wurde zuvor noch Niederländisch und auch Ostfriesisches Platt gesprochen).

Preußische Provinz im Deutschen Reich, Erster Weltkrieg (1871?1918)

Ostfriesland war nun Teil der preußischen Provinz Hannover. Aus der Landdrostei wurde der Regierungsbezirk Aurich gebildet, wobei die Bezeichnung Landdrostei ebenso wie die Ämterstruktur noch bis 1885 erhalten blieb. In diesem Jahr wurden die Landkreise Aurich, Emden (ohne Stadt Emden), Leer, Norden, Weener und Wittmund gebildet. Als kreisfreie Stadt kam Emden hinzu.

Mit der Reichsgründung am 18. Januar 1871 durch die Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser, wurde Ostfriesland in den konstitutionell-monarchistischen Bund aus 22 Einzelstaaten und drei freien Städten eingebunden, stand aber dennoch weiterhin unter preußischem Einfluss. So wurde 1880 bis 1888 der Ems-Jade-Kanal erbaut, der seine Entstehung dem Wunsch Preußens verdankte, seinen als Exklave im damaligen Großherzogtum Oldenburg gelegenen Kriegshafen Wilhelmshaven über den Wasserweg mit dem preußischen Ostfriesland, zu dem Wilhelmshaven bis 1937 politisch gehörte, und dem Emder Hafen zu verbinden.

Wirtschaftlich blieben Ackerbau und Viehzucht, insbesondere die Rinderzucht dominierend, wie schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Aurich und Leer waren zu dieser Zeit bedeutende Viehhandelsplätze. Die Industrialisierung fand hingegen nur sehr zögerlich statt. Bedeutung erlangten die Werften in Leer und Emden. Hier lagen auch die Handelszentren des Regierungsbezirks. Bei der wirtschaftlichen Förderung konzentrierte sich der preußische Staat auf Emden. Die Stadt entwickelte sich infolgedessen zum Seehafen des Ruhrgebiets und bedeutenden Umschlagplatz für Massengüter wie Erze und Kohle. Einen Anschub leistete dabei der 1899 fertiggestellte Dortmund-Ems-Kanal. 1913 wurde in der Stadt die Große Seeschleuse eingeweiht. Mit einer Binnenlänge von 260 Metern galt sie als eine der größten Seeschleusen der Welt. Mit dem Bau wurde auch ein neues Hafenbecken angelegt, der Neue Binnenhafen. Die Umschlag im Emder Hafen steigerte sich von 0,4 Millionen Tonnen im Jahr 1899 auf 3,5 Millionen Tonnen im Jahre 1913. Dieser Entwicklung folgten die anderen Städte nur bedingt. Lediglich in Leer gab es ein bescheidenes Wachstum, nachdem der Hafen von 1901 bis 1903 modernisiert worden war.

Die Ostfriesische Landschaft in Aurich, Bau in Formen der Neorenaissance Das Bevölkerungswachstum in der Region setzte sich fort. 1905 lebten 251.666 Menschen in Ostfriesland, etwa 30 Prozent mehr als zu Beginn der preußischen Herrschaft. Um die Jahrhundertwende setzte ein Wirtschaftswachstum ein, das bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges anhielt. Ab 1906 wurde der Nordgeorgsfehnkanal angelegt, der die planmäßige und industrielle Abtorfung des Wiesmoors ermöglichte, eines rund 100 Quadratkilometer großen, schwer zugänglichen Hochmoorgebiets im geografischen Zentrum der ostfriesischen Halbinsel. Erstmals kamen bei der Moorkolonisierung große und schwere Maschinen zum Einsatz. Der abgebaute Torf wurde ab 1909 im Torfkraftwerk Wiesmoor zur Elektrizitätserzeugung für weite Gebiete zwischen Ems und Unterelbe genutzt.

Wie im übrigen Reich wurde der Beginn des Krieges begeistert gefeiert. Viele junge Männer meldeten sich freiwillig. Das in Aurich stationierte Ostfriesische Infanterie-Regiment Nr. 78. wurde zunächst in Richtung Belgien geschickt und kam sowohl an der Westfront als auch an der Ostfront zum Einsatz. Nach dem Ende des Krieges wurde es Mitte 1919 aufgelöst.

Einen Tag vor der Abdankung des Kaisers wurde in Aurich und Emden am 8. November 1918 der erste Soldatenrat zur ?Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung? gegründet. Wenig später folgten Leer, Norden, Esens, Wittmund und Dornum. Am 10. November 1918 wurde vor rund 100.000 begeisterten Demonstranten in Wilhelmshaven die Nordseestation und alle umliegenden Inseln und Marinebasen sowie das dazugehörige Oldenburger Land zur sozialistischen Republik Oldenburg/Ostfriesland ausgerufen. Zum Präsidenten des Freistaates Oldenburg wurde Bernhard Kuhnt vom 11. November bis zum 3. März 1919 ernannt. Am 27. Januar 1919 versuchte die KPD in der Doppelstadt Wilhelmshaven-Rüstringen vergeblich einen Putsch durchzuführen. In der ländlichen, eher konservativ ausgerichteten Bevölkerung Ostfrieslands konnten sich die Arbeiter- und Soldatenräte nicht etablieren, so lösten sie sich dort nach der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung nach und nach auf.