Mittelalter (bis 1464)

Völkerwanderung, Heerkönige, gescheiterte Christianisierung

Darstellung des Deichbaus im Oldenburger Sachsenspiegel Mit dem Niedergang des Römischen Reiches versiegen vom 4. bis zum 7. Jahrhundert die Schriftquellen über die Region. Für das 5. und 6. Jahrhundert gibt es wenige archäologische Funde, was darauf hindeutet, dass es in dieser Zeit zu einem starken Rückgang der Besiedlung kam. Ursache dafür könnte der Meeresspiegelanstieg und die dadurch bedingte Überflutung der Marsch und die Vernässung der Geest sein. Wahrscheinlich ist, dass ein Teil der Bevölkerung mit den Sachsen, Angeln und weiteren germanischen Völkern nach England übersetzte.

In der Völkerwanderungszeit wurde die im östlichen Ostfriesland ansässige Bevölkerung der Chauken vermutlich in den föderativen Stammesverband der Sachsen eingegliedert. Auf eine kulturelle Annäherung deuten Funde neuer Keramikformen hin, die aus dem Gebiet westlich der Weser stammen, wo in dieser Zeit die Sachsen lebten. Zeugnisse kriegerischer Auseinandersetzungen, etwa Brandhorizonte, fehlen hingegen.

Im 7. und 8. Jahrhundert begann eine Neubesiedlung im Rahmen einer Expansion des friesischen Siedlungsgebiets. Diese reichte im Westen bis zur Sincfal (nördlich von Brügge), und umfasste Südholland, Utrecht und Westgelderland. Seit dem 8. Jahrhundert wurden auch Wursten und die nordfriesischen Inseln besiedelt, und später das gegenüberliegende Festland. Funde aus dieser Zeit deuten darauf hin, dass die Siedler aus den friesischen Gebieten westlich der Lauwers stammten.

Bis zu den ersten Deichbauten war eine Besiedlung nur in höher gelegenen Geestgebieten und auf so genannten Warften im häufig von der Nordsee überfluteten Marschland möglich. Ab ca. 1000 n. Chr. ermöglichten Deichbauten, die gesamte Marsch zu besiedeln. Hierauf spielt der Sinnspruch Deus mare, Friso litora fecit (Gott schuf das Meer, der Friese die Küsten) an.

Zwischen 650 und 700 entstand ein friesisches Heerkönigtum, das gelegentlich immer noch als Großreichsbildung missverstanden wird. Unstreitig ist, dass diese Heerkönige sich gegen die fränkische Expansion (und die damit einhergehende Christianisierung) zur Wehr setzten, was wohl weite Teile des heutigen Westfrieslands, Ostfriesland und Gebiete bis zur Weser zusammenführte (Magna Frisia). Der erste überlieferte Name eines Heerkönigs ist Aldegisel, der offenbar ab 678 den christlichen Missionar Wilfrid unterstützte. Sein Sohn und Nachfolger Radbod hatte, wie sein Vater, seinen Machtschwerpunkt im Westen, im Raum Utrecht. Er stand 716 mit seinem Heerhaufen vor Köln und besiegte im selben Jahr den fränkischen Hausmeier Karl Martell, der damit seine einzige Niederlage hinnehmen musste. Radbod (? 719) wurde in wilhelminischer Zeit geradezu zu einem Vorkämpfer germanischer Freiheit und, da er sich nicht taufen ließ, der anti-römischen Kräfte stilisiert - auch Industriekomplexe wie die Zeche Radbod im östlichen Ruhrgebiet wurden nach ihm benannt. Er ist bis heute Teil der Folklore.

Teil des Frankenreichs, Christianisierung 

Nachfolger Radbods wurde Poppo. Er widersetzte sich vergeblich der Rückeroberung des westlichen Frieslands durch die Franken, und nach 720 waren alle Landesteile westlich der Vlie in fränkischer Hand. Endgültig schlug Karl Martell die Friesen in der Schlacht an der Boorne (734). Poppo fand dabei den Tod. Karl der Große eroberte 785 nach dem Sieg über die Sachsen ganz Friesland einschließlich der östlichen Gebiete bis zur Weser. Sachsen und Friesen, die gegen Karl gekämpft hatten, wurde das Ius paternae hereditatis, das Recht auf ihr väterliches Erbe und damit ihr freies Erbeigen, entzogen. Zur Absicherung seiner Eroberungen ließ Karl zudem das Friesische Recht aufzeichnen und mit fränkischen Gesetzen in einer Übersicht zusammenfassen, der Lex Frisionum.

Kloster Ihlow - Reste der Fundamente Die Franken nahmen die gescheiterte Christianisierung durch die Missionare Liudger und Willehad wieder auf. Ostfriesland wurde zu einem Teil dem Bistum Bremen, zum anderen dem Bistum Münster zugeschlagen. Es entstand eine Klosterlandschaft an der niederländischen und deutschen Nordseeküste mit einem Höhepunkt im 12. und 13. Jahrhundert. Insgesamt lassen sich von Westfriesland über Groningen bis Ostfriesland etwa 120 Gründungen der verschiedenen Orden nachweisen. In Ostfriesland selbst gab es bis zur Reformation mehr als 30 Klöster.

Friesland wurde bei seiner Integration ins Frankenreich in mehrere Grafschaften geteilt. Im Bereich zwischen Ems- und Wesermündung waren dies der Emsiga im Südwesten, der Federitga im Nordwesten, Nordendi mit Herloga im Norden, Wanga im Nordosten, Asterga im Osten und Riustri im Osten. Die innere Geest blieb zunächst namenlos. Die Herrschaft über diese Gebiete wurde auswärtigen Adligen übertragen. Vermutet wird, dass es zu dieser Zeit keine etablierte Schicht vornehmer Familien in der Region gab, da diese sonst bei der Durchsetzung der Grafschaftsverfassung im Fränkischen Reich als Grafen berücksichtigt worden wären. Zu den auswärtigen Grafengeschlechtern, die in Ostfriesland eingesetzt wurden, gehörten die westfälischen Cobbonen, die offenbar Rechte im westlichen Ostfriesland innehielten. Ihnen folgten hier später die Grafen von Werl. Im östlichen Ostfriesland werden seit dem 10. Jahrhundert die sächsischen Billunger neben den Grafen von Stade als Grafschaftsinhaber genannt, denen dann Heinrich der Löwe folgte.

Sie alle scheiterten jedoch daran, ihre jeweiligen Herrschaftsansprüche zu festigen, denn ab dem 9. Jahrhundert wurde Ostfriesland Ziel mehrfacher Wikingerfälle, bei denen die Bevölkerung auf sich allein gestellt war. Die Verteidigung des Landes organisierte Karl, indem er in Friesland entlang der Küste und insbesondere an den Flussmündungen eine Art ?Küstenwacht? einrichtete, die sich auf die Selbsthilfe der waffenfähigen und königstreuen Friesen stützte. Diese wurden dafür vom Militärdienst auf fremden Territorien freigestellt. Dies wurde erstmals in den sogenannten gemeinfriesischen Siebzehn Küren festgehalten, die wohl um 1080 entstanden sind. Darin heißt es, die Friesen müssten auf keiner Heerfahrt nach Osten weiter als bis zur Weser und nach Westen weiter als bis zum Fli (Seegatt zwischen Vlieland und Terschelling) ziehen.

Die Friesen entwickelten daraus den politischen Mythos, Karl der Große sei der Stifter der Friesischen Freiheit gewesen. Die von Karl so privilegierte Schicht dürfte jedoch dünn gewesen sein, da sie ausschließlich aus Männern bestand, die königstreu waren und denen Karl daher das Ius paternae hereditatis nicht entzogen hatte. Erst als der Sohn Karls, Ludwig der Fromme, ihnen dieses 814 zurückgab, gelangten alle grundbesitzenden Friesen in den Genuss der Königsfreiheit. Diese zahlten dem König im Gegenzug dafür eine huslotha oder koninckhuere genannte Abgabe. Als die auswärtigen Grafen ab dem 11. Jahrhundert versuchten, ihre friesischen Grafschaften in eigene Herrschaften umzuwandeln, wurde dies durch den Widerstand der Friesen zunichte gemacht. Spätestens im 12. Jahrhundert hatte sich dann die Freiheit der Friesen auf ganzer Breite durchgesetzt und die Friesen begannen, sich in autonomen Landesgemeinden zu organisieren.

Ablösung der Grafengerichte, Konsularverfassung, Friesische Freiheit

Gegen Ende der Karolingerzeit entstand ein Verbund zunehmend von den herrschaftlichen Gruppen im Kernland des Frankenreichs abgekoppelter Bezirke. Diese entsandten jährlich gewählte Vertreter, die so genannten ?Redjeven? (Rechtsprecher, Ratsmänner), die sowohl die Gerichtsbarkeit ausübten als auch ihre Bezirke führten. Die Gruppe der Großen reichte zwar teilweise bis zur fränkischen Eroberung zurück, doch blieb der in Europa verbreitete Feudalismus in Ostfriesland wenig entwickelt. Vielmehr verstanden sich die Friesen als von grundherrlichen Bindungen freie Bauern, die weder an die Scholle gebunden waren, noch Vasallitätsverhältnisse entwickelten, wie sie in den karolingischen Herrschaftsgebieten entstanden waren. Zwar gab es Unfreie, aber ihre Zahl dürfte gering gewesen sein.

Die Ablösung der Grafengerichtsbarkeit durch die Konsularverfassung begann schon vor dem 12. Jahrhundert. Jedes Jahr versammelten sich vom 12. bis ins 14. Jahrhundert in der Friesischen Freiheit gewählte Abgesandte der sieben friesischen Seelande am dritten Pfingsttag am Upstalsboom in Rahe (heute ein Stadtteil von Aurich). Die Zahl sieben ist hierbei symbolisch zu verstehen, tatsächlich waren es Abgesandte aus weitaus mehr Landstrichen. Sie wurden bereits zu Ostern in den jeweiligen Gauen gewählt. Am Upstalsboom sprachen sie Recht und trafen politische Entscheidungen von überregionaler Bedeutung. Urkundlich nachgewiesen sind diese Versammlungen für den Zeitraum zwischen 1216 und 1231 sowie 1323 und 1327.

Ostfriesische Häuptlinge 

Im Verlauf des 14. Jahrhunderts zerfiel die Redjeven-Verfassung. Dazu mag auch der Ausbruch der Pest beigetragen haben, vielleicht aber noch mehr die drei schweren Sturmfluten. Die verheerendste unter ihnen war die Zweite Marcellusflut (1362), auch Groote Mandränke genannt. Sie forderte nicht nur Tausende Menschenleben, sondern führte auch zum ersten Einbruch des Dollarts sowie zu einer Erweiterung von Leybucht und Harlebucht. Durch die Erste Dionysiusflut (1374) wurde die Leybucht bis Norden erweitert ? was später dann allerdings die wirtschaftliche Bedeutung Nordens als Handelsstadt hob. Die Zweite Dionysiusflut (1377) führte zu Deichbrüchen bei Lütetsburg und Bargebur.

Hinzu kamen äußere Bedrohungen. So hatten die Nachkommen der zu karolingischer Zeit in den friesischen Gauen eingesetzten, nur mit dem König verbundenen Grafen, wie etwa die Grafen von Oldenburg aber auch geistliche Herrscher, wie die Bischöfe von Münster ihre Bestrebungen keineswegs aufgegeben, den Norden ihrem Herrschaftssystem einzufügen.

Diese Situation machten sich einige einflussreiche Familien zu Nutze und schufen ein Herrschaftssystem, in dem sie als Häuptlinge (hovedlinge) die Macht über mehr oder weniger weite Gebiete gewannen. Dabei etablierten sie weiterhin kein Feudalsystem, wie es im übrigen Europa zu finden war, sondern eher ein Gefolgschaftssystem, das älteren Herrschaftsformen germanischer Kulturen im Norden ähnelte, indem die Bewohner der jeweiligen Machtbereiche zwar in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Häuptling standen, diesem verschiedentlich verpflichtet waren, im Übrigen aber ihre Freiheit behielten und nicht an die Scholle gebunden waren.

Bis Ende des 14. Jahrhunderts bildeten die Machtkämpfe der Häuptlingsfamilien ein lokales Problem. Nachdem die Vitalienbrüder durch den Deutschen Orden 1398 von der Ostseeinsel Gotland vertrieben worden waren, fanden sie jedoch Aufnahme bei einigen der ostfriesischen Herrscher, die sie als Streitmacht einsetzten. Die Seeräuber profitierten dabei von der Abgeschiedenheit Ostfrieslands auf dem Landwege bei gleichzeitigem Zugang zu den Seewegen vor der ostfriesischen Küste. Der wohl bekannteste Seeräuber, der hier Unterschlupf fand, war Klaus Störtebeker. Er quartierte sich in Marienhafe ein, das damals noch an der Leybucht lag und somit Zugang zur offenen See hatte. Dadurch kam es zu erheblichen Spannungen mit der Hanse, deren Heere in der Folgezeit mehrfach in Ostfriesland einmarschierten. Vor allem die Städte Hamburg und Bremen sahen sich durch die Seeräuber geschädigt. Die Konflikte unter den Häuptlingen wurden durch das Engagement der Hanse jedoch nicht beseitigt, sondern eher noch verkompliziert. Die Hanse schlug 1401 eine erfolgreiche Seeschlacht vor Helgoland gegen die Seeräuber. Teile Ostfrieslands, darunter Emden, wurden vor allem von hamburgischen Kräften besetzt. Sie zogen erst 1453 wieder aus Emden ab.

Die Schlacht auf den Wilden Äckern markierte am 28. Oktober 1427 das Ende des Einflusses der Häuptlingsfamilie tom Brok in Ostfriesland. Die tom Broks hatten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts versucht, die Herrschaft über Ostfriesland zu übernehmen. Erst der Aufstieg der Cirksena um 1430, als Edzard Cirksena sich als Anführer eines Bundes der Freiheit durchgesetzt hatte, beendete diese von lang anhaltenden Fehden geprägte Phase, zugleich aber auch die Sonderstellung der regionalen Gesellschaftsverfassung. Ulrich Cirksena, ein Angehöriger eines der letzten einflussreichen Häuptlingsgeschlechter, wurde 1464 von Kaiser Friedrich III. in den Reichsgrafenstand erhoben und mit Ostfriesland als Reichsgrafschaft belehnt. Es gehörte zum Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis.